Anna

Über Kindheit, Grenzen und Bürokratie

Ich bin Anna, arbeite selbstständig im Kulturbereich und gebe Workshops zu Diskriminierung und Inklusion. Mein ganzes Leben habe ich in diesem Bereich gearbeitet.

Ich bin oft umgezogen. Zuerst lebten wir in einer Militärstadt in einem alten Haus mit dicken Schneedecken vor der Tür. Ich erinnere mich an leere Regale in riesigen Läden und Maidemonstrationen. Später zogen wir nach Minsk – erst war es ein Neubaugebiet mit Feldern, dann eine Metropole.

Fremdsein und die erste

Begegnung mit „den Anderen“

Das erste Mal fremd fühlte ich mich, als dänische Schüler zu uns kamen. Bis dahin habe ich Ausländer nur im Fernsehen gesehen. Sie sahen anders aus, mit zerzausten Haaren und zerrissenen Schuhen – nicht, weil sie arm waren, sondern weil es ihnen gefiel. Später als Au-pair in Frankreich fragte man mich ständig, warum ich so schlecht Französisch spreche. An der Uni nannten sie mich „PECO“ – „Pays d’Europe Centrale et Orientale“. Erst dachte ich, es sei neutral, dann merkte ich, dass es eine Grenze markierte.

Die Unsichtbarkeit von Grenzen

– bis man sie spürt

Ich hatte immer Angst davor, festzustecken. Als Kind erzählte ich dem Weihnachtsmann, dass ich einen Ausländer heiraten will – nicht, weil ich das wirklich wollte, sondern weil ich mir dadurch Freiheit versprach. Die Vorstellung einer Welt außerhalb meiner eigenen war idealisiert.

Bürokratie als ständige Prüfung

Mein ganzes Leben lang musste ich Formulare ausfüllen, Passfotos machen, Dinge nachweisen. Ich wollte immer die „gute“ Ausländerin sein – ordentlich, höflich, mit perfekten Dokumenten. Aber das bedeutete auch, nie auf Augenhöhe mit Mitarbeiter*innen in Behörden zu sein. Ich hatte immer Angst, meinen Pass zu verlieren, weil er wichtiger schien als ich selbst.

An Grenzen sieht man den Unterschied: Europäische Pässe werden durchgewunken, andere kontrolliert. Wer nie um ein Visum kämpfen musste, kann die Reisefreiheit nicht wirklich verstehen.

Einmal erzählte ich Freunden, dass ich noch nie in London war. „Dann fahr doch hin!“, sagten sie. Sie begriffen nicht, dass das für mich mit Visa, Formularen und langen Wartezeiten verbunden war.

Was ist Staatsbürgerschaft?

Früher hielt ich die EU für ein Ideal – Gleichheit, offene Grenzen. Heute sehe ich, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert, Ressourcen knapper werden und Staatsbürgerschaften immer mehr über Chancen entscheiden. Selbst unter Migranten gibt es neue Hierarchien: Wer lange kämpfen musste, ärgert sich über die, die es plötzlich leichter haben.

Bürokratie als Hindernis oder Hilfe?

In meiner idealen Welt definieren Dokumente nicht, wer du bist. Sie sollten Türen öffnen, nicht schließen. Doch in der Realität bleibt Bürokratie ein System der Kontrolle. In Estland gibt es digitale Prozesse, die vieles erleichtern. Aber hier höre ich oft: „Unser System funktioniert doch.“ Ja, aber für wen? Für die, die nie kämpfen mussten. Und ich frage mich: Wird sich das je ändern?

*Das Interview wurde in russischer Sprache geführt.